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Mo, 23.10.2023

Blasse Tage auf Lesvos Recherchen für die neue Dauerausstellung im Erweiterungsbau

Genau vor einem Jahr fuhr ich für die Ausstellungsvorbereitungen gemeinsam mit meinem Kollegen Monzer Alzakrit nach Jordanien, um dort Interviews für die neue Dauerausstellung zu führen, unter anderem im Lager Zaatari [zum Reisebericht].

Ein weiterer Ort, geografisch näher, aber gefühlt sehr weit weg von uns, wird in der Ausstellung vorkommen, nämlich die griechische Insel Lesvos, auf der das einst berüchtigte, heute abgebrannte Lager Moria stand.

Die Insel selbst glänzt im Spätsommer in kräftigen Farben, das Meer ist stechend blau, viele Gebäude flimmern weiß. Oliven- und Obstbäume erstrecken sich über die hügelige Landschaft, ein versteinerter Wald erzählt vom vulkanischen Ursprung der Insel. Doch erinnert man sich an die Elendsbilder und Berichte aus dem Lager Moria, die Unruhen und Attacken von Rechtsradikalen auf Flüchtlingshelfer:innen im Jahr 2020 und als Abschluss der Tragödie dem Abbrennen des Lagers, verblasst die Schönheit der Insel.

Neben der großen Solidarität und Hilfsbereitschaft von Einheimischen und ausländischen Helfer:innen, die sich damals auf der Insel niederließen, um die zahlreichen Geflüchteten in dem völlig überfüllten Lager Moria zu unterstützen, wurde das Lager zu einem Symbol für eine dysfunktionale EU-Flüchtlingspolitik, menschenverachtende Zustände in einem europäischen Flüchtlingslager und die Entmenschlichung an den europäischen Außengrenzen.

 

Wie sieht es heute aus auf Lesvos, nachdem das Lager abgebrannt ist und die meisten Helfer:innen die Insel verlassen haben?

Lager Mavrovouni, aufgenommen vom Parea Center aus, das auf einem Hügel gegenüber liegt. |

Lange war es eher ruhig um die Insel am äußersten Zipfel der EU gelegen, was daran lag, dass die griechische Küstenwache durch systematische Pushbacks, also die gewaltsame Zurückdrängung von Flüchtlingsbooten zurück auf türkische Gewässer, die Zahl der Ankommenden niedrig hielt [Bericht Tagesspiegel, Juni 2023].

Die kürzeste Entfernung zwischen der Türkei und Lesvos beträgt 7 Seemeilen, was in etwa 13 Kilometern entspricht. Während türkische Tourist:innen einfach auf die Fähre steigen und für circa 20 Euro nach Lesvos fahren können, steigen geflüchtete Menschen auf klapprige Boote und zahlen mehrere Tausend Euro dafür, oft mit ungewissem Ausgang, ob das Boot untergeht, die Küstenwache sie zurückdrängt oder sie doch das griechische Festland erreichen werden.

Nach den Vorkommnissen vor Pylos mit hunderten Ertrunkenen [Bericht Deutsche Welle, Juni 2023] und dem Mord an einem Fährpassagier durch das Personal, weil sie annahmen, er sei ein Pakistani [Bericht Süddeutsche Zeitung, September 2023], hält sich die griechische Küstenwache momentan mit Pushbacks zurück.

So spitzte sich die Lage während unseres Aufenthaltes auf Lesbos wieder zu. Während der Reise kamen erstmals so viele Geflüchtete auf der Insel Lesvos an, dass das Lager Mavrovouni, das nach dem Brand als Provisorium gebaut wurde, aber drei Jahre später immer noch besteht, keine Menschen mehr aufnehmen konnte. In der Umgebung des Lagers sah man Menschen im Freien schlafen.

Im Gegensatz zu Moria bleibt in Mavrovouni allerdings vieles im Verborgenen, da so gut wie keinem Außenstehenden mehr Eintritt in das Lager gewährt wird.

Vor dem Lager selbst trauen sich viele, die im humanitären Bereich arbeiten, nicht aufzuhalten, da sie Angst vor einer möglichen Verhaftung haben. Schon länger versucht die griechische Regierung Helfende zu kriminalisieren und hat beispielsweise an der Schwimmerin Sara Mardini und weiteren Helfer:innen aus ihrem Umfeld ein Exempel statuiert, dessen Abschreckungswirkung sich durchaus verfangen hat. Aktivist:innen, die uns an die Orte der Migration auf Lesvos führten, hatten Sorge, direkt vor dem Lager anzuhalten, da sie Angst vor einer möglichen Verhaftung hatten. Auch ich hatte im Vorfeld versucht, für die Recherchen der Ausstellung als Mitarbeiterin eines staatlichen Museums in das Lager Eintritt zu bekommen, das immerhin mit EU-Geldern finanziert wird. Die Anfrage wurde über Monate verschleppt und versickerte dann im Schweigen der Behörden.

Menschen, die dort als Geflüchtete untergebracht waren oder dort als Helfer:innen gearbeitet hatten, gaben uns einen Eindruck der Zustände im Lager. So hat sich wenig verändert im Lager [Bericht: DIE ZEIT, Dezember 2020], seit es 2020 entstand. Bis heute gibt es kein fließendes Wasser im Mavrouvoni, Strom wird über Generatoren erzeugt, die unzuverlässig funktionieren. Nachts werden willkürlich Durchsuchungen ausgeführt, die Bewohner:innen werden geweckt und ihre fast leeren Unterkünfte durchsucht, sie besitzen ja so gut wie nichts. Wonach bei diesen Durchsuchungen gesucht wurde, wusste unser Interviewpartner auch nicht.

Die Menschen leben nach wie vor in Zelten, die den klimatischen Bedingungen nicht standhalten. Im Winter ist es viel zu kalt, im Sommer heizen sich die Unterkünfte derart auf, dass man sich innen nicht aufhalten kann.

Die griechische Regierung hatte im Mai dieses Jahres, kurz vor den Wahlen, ein Gesetz verabschiedet, dass die Lage der geflüchteten Menschen noch weiter verschärft: So werden Personen, die einen positiven oder einen negativen Bescheid über ihr Asylgesuch erhalten haben, von der Lebensmittelversorgung ausgeschlossen. Nur noch Menschen im laufenden Verfahren haben in den Lagern ein Anrecht auf Essen und Trinken. Faktisch bedeutet das, dass sowohl abgelehnte als auch bewilligte Geflüchtete, auf den griechischen Inseln festsitzen, da sie kein Geld haben, um dort wegzukommen, und nun zusätzlich auch nicht wissen, wo sie ihre nächste Mahlzeit erhalten sollen. Die wenigen NGOs, die noch auf der Insel verblieben sind, haben deshalb einen Notfallplan auf die Beine gestellt, um wenigstens Wasser und eine Mahlzeit am Tag einem Teil der Menschen zu ermöglichen. So wechseln sich der Verein Doro Blancke, die Organisation Leave no one behind, die Hilfsorganisation Europe Cares und die Gruppe Siniparxi mit der Lebensmittelversorgung ab. Im Parea Center Lesbos, ein Ort, an dem sich mehrere NGOs zusammengetan haben, können die Menschen nun Nahrung erhalten, neben vielen anderen Angeboten.

 

Bei unserem Besuch bei Doro Blancke zuhause als auch im Parea Lesvos wurde eindringlich klar, dass diese Hilfsorganisationen selbst viel zu wenig Geld haben, um dauerhaft alles abzudecken. Somit weiß keiner so genau, wie es um die Essensversorgung in Zukunft aussehen wird.

Essensausgabe im Communitycenter Parea Lesvos. Foto: Parea Center Lesvos|

Neben den Interviews, die wir führen konnten, hatten wir auch die Möglichkeit, verschiedene Orte auf der Insel anzusehen, die von der jüngsten Geschichte der Insel erzählen. Hier sollen nur wenige Beispiele herausgegriffen werden, die wir besuchten:

Nach einer Fahrt durch bergige Landschaft, erreichten wir das Gelände des abgebrannten Lagers Moria.

Die Brachfläche sieht heute noch so aus, als ob es erst gestern abgebrannt ist.

Foto: Olga Saliampoukou
Foto: Olga Saliampoukou
Die einstigen Sanitäranlagen des Lagers Moria. Foto: Olga Saliampoukou|

Zwischen den Fundamenten einzelner fester Unterkünfte, die in der Mitte des Lagers existierten und den baulichen Resten des Sanitärbereichs, fanden wir immer noch Objekte, die von den Menschen stammen, die dort fluchtartig das Gelände verlassen mussten. Löffel, Brillenetuis, Teile von Mobiltelefonen und vieles mehr, lagen dort einfach noch rum. Besonders bedrückend war eine Sammlung von Ausweisen und persönlichen Unterlagen mit sensiblen Daten, die nach dem Brand von behördlicher Seite nie eingesammelt wurden, bis eine NGO dies tat und sie nun dem Museum übergab.

Das neu entstehende Lager auf Moria bei Vastria. Foto: Olga Saliampoukou|

In Vastria, im Hinterland der Insel, entsteht gerade das neue Lager, das nach Fertigstellung das Lager Mavrovouni ersetzen soll. Dieses Lager liegt abgeschnitten von jeglicher Infrastruktur in der größten zusammenhängenden Waldfläche der Insel. In Vastria ist eine totale Kontrolle mit modernster Überwachungstechnologie geplant, wie sie bereits auf anderen griechischen Inseln Anwendung findet. [Bericht: Deutsche Welle, September 2021] Würde man dieser Art Freiluftgefängnis verlassenn, würde es sich aber auch nicht lohnen, denn die einzige zivilisatorische Anlage, die man eventuell noch zu Fuß erreichen könnte, ist eine Mülldeponie.

Ein Friedhof für muslimische Geflüchtete, der ebenfalls relativ abgelegen ist und nur mit dem Auto zu erreichen, kann nur noch wenig über die Menschen erzählen, die dort liegen. So erkennt man anhand der Daten auch Säuglingsgräber. Viele namenlose Toten haben aber nur ein Stück Holz mit einer Nummer darauf, die sie von behördlicher Seite erhalten haben.

Ein namenloses Grab auf dem Friedhof bei Kato Tritos. Foto: Olga Saliampoukou|

Es gab noch weitere Orte, die auf Lesvos davon erzählen, wie wir uns in Europa dazu entschieden haben, Menschen zu entmenschlichen, die in ihrer Heimat so wenig Zukunft sehen, dass sie die oft tödlich endende Flucht über das Meer antreten.

Nur ein Teil des sogenannten Moria 2.0 Komplexes wird möglich sein, in der neuen Dauerausstellung zu zeigen. Doch dieser Teil wird vielleicht dazu beitragen, die Besucher:innen anzuregen darüber nachzudenken, wie unsere Zukunft aussehen wird, wenn wir uns entscheiden, weiterhin so mit Menschen umzugehen.

 

Text: Piritta Kleiner