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Herbert Günther

Liebe Museumsleute,

herzlichen Glückwusch zum fünften Geburtstag! Schön, dass es das Museum gibt, eine wunderbare Möglichkeit, sich an ein Stück Geschichte und Zeitgeschichte zu erinnern, das nicht vergessen werden sollte. Das Lager Friedland hat in meinem, nun 73jährigen Leben immer wieder einen Platz bis in meine Geschichten für Kinder und anderes Menschen gefunden. Als Geburtstagsgeschenk sozusagen schicke ich Ihnen zwei kurze Passagen aus meinen Geschichten, die erste aus der Geschichte „Herthas Geheimnis“ erschienen 1998 im Buch „Luftveränderung“ im Oetinger-Verlag (lieferbar als BoD-Taschenbuch):

… Robert wusste noch, wie er dieses dunkle Angstgefühl KRIEG ganz tief in seinem Bauch gespürt hatte, als er durch die Gassen zwischen den Baracken gegangen war. Überall standen, saßen und lagen Männer herum und starrten sie an. Ihre Augen lagen in dunklen, tiefen Höhlen. Sie hatten eingefallene Gesichter und waren dürr wie Bohnenstangen. Vielen fehlte ein Bein oder ein Arm. Viele schleppten sich an Krücken vorwärts.
Ihr Vater ging auf diese Männer zu und nannte sie ‚Kamerad‘. Er zeigte ihnen Fotos von seinem Bruder Heinrich, sagte ihnen, in welcher Kompanie Heinrich gewesen, und nannte den Ort, aus dem der letzte Brief von Onkel Heinrich gekommen war. Aber die Männer schüttelten die Köpfe. Keiner hatte Onkel Heinrich gesehen. Schließlich gingen sie in ein Büro vom Roten Kreuz und Vater füllte ein Formular aus.
Sie waren schon fast wieder auf dem Parkplatz, auf dem Kaufmann Böllke mit seinem Kleinbus auf sie wartete – damals hatte sie noch kein Auto – da fragte Hans: ‚Und warum sind die alle in Russland gewesen?‘
Die Mutter war ganz erschrocken über diese Frage. Hans war damals fünfzehn und stritt sich oft mit den Eltern.
‚Das ist ihnen so befohlen worden!‘, sagte der Vater empört.
Aber damit gab Hans sich nicht zufrieden.
‚Von wem denn befohlen?‘, fragte Hans mit belegter Stimme. ‚Von Hitler?‘
‚Von der Wehrmacht‘, sagte der Vater. ‚Das verstehst du eben nicht. Und jetzt sei ruhig!‘
Aber Hans war nicht ruhig.
‚Das sind doch Deutsche‘, sagte Hans. ‚Was wollten die denn in Russland? Wenn die Russen hierhergekommen wären, die hätten wir doch auch rausgeworfen, oder?‘
Da holte der Vater aus und schlug Hans ins Gesicht. Zornrot rang der Vater nach Luft. ‚Das wirst du auch noch verstehen!‘, rief er so laut, dass Leute stehen blieben und zu ihnen hersahen. ‚Warte nur ab! Das wirst du auch noch verstehen!‘
Aber er sagte nicht, was. Die Mutter griff nach seinem Arm und beruhigte ihn allmählich. Langsam gingen sie weiter und taten so, als wäre gar nichts gewesen.
Noch etwas Ungewöhnliches war an diesem Tag passiert. Nach dem Abendbrot hatte der Vater sich bei Hans für die Ohrfeige entschuldigt.
‚Mir ist einfach die Hand ausgerutscht‘, sagte der Vater.
‚Das müsst ihr verstehen‘, sagte Mutter. ‚Wenn man all dieses Leid sieht. Wie leicht hätte euer Vater auch in russische Gefangenschaft geraten können. Wie leicht hätte er jetzt auch in Friedland sein können. Ein Krüppel vielleicht für sein ganzes Leben.‘
Dann hatte sie das Fotoalbum geholt und ihnen Bilder gezeigt vom Vater, wie er gerade aus dem Krieg zurückgekommen war. Dürr und ausgemergelt sah er darauf aus, genau wie die Männer in Friedland. Seine Augen lagen in dunlen, tiefen Höhlen. Robert musste ein paarmal hinsehen, um ihn zu erkennen. Aber er war es. Sie waren froh, dass der Vater bei ihnen saß und schon wieder anders aussah als auf den Bildern. …

 

Eine ganz andere Begegnung mit dem Lager Friedland hatte ich viel später, die mich zu einer anderen Geschichte angeregt hat. 2006 erschien in der Reihe Hanser/dtv unter dem Titel "Mach’s gut, Luzia ein Geschichtenbuch über Kinder der Welt", sieben Geschichte über sieben Kinder in sieben verschiedenen Ländern. Eine davon spielt in Deutschland, sie heißt Mein rechter Platz ist leer. Zu jeder Geschichte habe ich eine kurze Information über die Entstehung geschrieben. Hier also der  Hintergrund zu dieser Geschichte:

Wenn ich mit der Bahn fahre, beginnt meine Reise auf dem kleinen Bahnhof von Friedland. Oft stehe ich dann früh morgens inmitten einer Gruppe von Aussiedlern aus Kasachstan oder anderen fernen Weltgegenden, die vom Lager Friedland aus zu ihrer ersten Bleibe in Deutschland geschickt werden. Während meine Reise mich zu Schullesungen, also meist zu interessanten Gesprächen und Begegnungen führt, ist das Reiseziel der Aussiedler vielleicht ein Wohncontainer, so ähnlich wie der, in dem Federrico, der Flüchtlingsjunge aus dem Kosovo lebt. ‚Ein Meter PVC-Belag trennt die fünfköpfige Familie von den Nachbarn auf der anderen Flurseite‘, lese ich im Jahresbericht 2002 von terre des hommes. ‚Seit zwei Jahren leben die Familien in den Containern. Von den kunststoffbeschichteten Wänden läuft Kondenswasser. Für Kinder ist diese Bauweise nicht gut, sagt Stefan Böhmer. Auch gibt es keinen Platz, wo sie in Ruhe Schulaufgaben  machen können. Der Sozialpädagoge ist Mitarbeiter des Vereins für soziale Arbeit und Kultur Südwestfalen und kümmert sich um den Deutschunterricht für Flüchtlingskinder. Jeden Freitagnachmittag gibt er im Container Förderunterricht.‘

Federico, habe ich mir vorgestellt, kann Stefan, den Sozialpädagogen, gut leiden. Aber da gibt es etwas Unsichtbares aus der Vergangenheit, etwas, das Federico immer wieder Alpträume bereitet. Wirklich verstehen, kann das wohl nur, wer Ähnliches erlebt hat. …

(„Mach’s gut, Lucia“ gibt es inzwischen als Taschenbuch in der Reihe Bücher für eine Erde der Menschlichkeit bei terre des hommes)

 

Seit 1988 wohne ich in Friedland-Reckershausen und freue mich, dass es das Museum Friedland gibt, dessen interessante Veranstaltungen ich hin und wieder besuche. Ich wünsche dem Museum und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern viel Gutes für die Zukunft, in der hoffentlich auch bald wieder richtige Begegnungen möglich sein können.

Herzliche Grüße

Herbert Günther

 

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